Halbzeit

13.June 2013 - Montes Claros


Es hat wieder einmal klick gemacht, es ist Donnerstagabend und meine Augen fallen gleich zu. Die Krankenhaussachen hab ich noch an und freue mich, dass es morgen wahrscheinlich keine Corrida mit dem Marschall geben wird.

Für alle Seminare konnte ich diese Woche nicht lernen und fast immer kam ich spät nach Hause.
Montag vertröstete uns Dr. Eudes auf Dienstag. Vilma und ich hatten Notfalldienst und Dr. Cassio lässt uns nicht abstinken. Wir gingen in den OP zurück und waren mit der Wundversorgung in der Notaufnahme bis kurz vor 8 beschäftigt. In der Zwischenzeit hatte Leandra mich schon 5x angerufen, sie würde vor dem Krankenhaus warten, damit wir zusammen einkaufen gingen. Ich witterte dahinter eher ein Befehl ihrer Mutter, die mich gut versorgt wissen will, solange sie nicht in Montes Claros ist. Wir kamen rechtzeitig zurück, um uns noch von Archimedes zu verabschieden, der wieder zurück nach Bahia fährt. "Ich mag meien ruhiges Leben in Bahia, mich hält hier nichts, aber du wirst mir fehlen."

Am Dienstag durfte natürlich der Handkuss von Dr. Goncalo nicht fehlen. "Ach, meine Liebe. Wenn du mich nicht mehr sehen willst, dann komme ich nicht wieder."

Mittwoch hatte ich unerwartet frei, weil ich meinen Dienstplan falsch gelesen hatte. Ich räumte erstmal die Wohnung auf und kehrte den gröbsten Dreck weg, später ging ich noch zur Fallbesprechung und zum Seminar von Dr. Romildo, der weit ausholte und erst 21 Uhr zum Schluss kam. Im Anschluss blieb Luis auf der Treppe stehen und grinste uns verschwörerisch an: "Wir könnten hier noch kostenlos Abendbrot essen!" Da gibts zwar nur das gleiche wie mittags, aber es macht satt.

Am Donnerstag war kein Dienstarzt in der Notaufnahme, weil der Donnerstagsarzt Urlaub hat und kein Ersatz gefunden wurde. Nachdem alle Patienten visitiert waren, ging ich in den OP, wo eine Narbenhernie korrigiert und aus ästhetischen Gründen noch ein ganzes Stück Bauchdecke entfernt wurde. Zum Schluss musste der Bauchnabel neu eingenäht werden. Zé Ronaldo war in Hochform und legte wieder auf 'deutsch' los. "Dotora, die Brasilianer mögen blonde Frauen mit hellen Augen. Ist keiner aus deiner Seminargruppe hinter dir her? Sind das keine Männer oder sind die alle verhindert wie ich?" Er zeigte auf seinen Ehering.

Ich ließ mich breitschlagen, für Fernandinha eine Assistenz bei Dr. Cassio zu übernehmen, damit sie zum Seminar gehen kann.
Cassio wollte wieder alles anders und das sofort. Er bringt mich auf die Palme. Es gibt einen brasilianischen Komiker, der sich Shaolin nennt und ihm sehr ähnlich sieht. Ein Patient hat ihn auch mal so genannt. Zum Glück war das nur ein Patient - die haben hier Narrenfreiheit.
http://integracaofm88.blogspot.com.br/2012/09/humorista-shaolin-ganha-aparelho-que-le.html
Er nennt die Assistenzärzte auch 'bich'. So nennen sich die Männer in Montes Claros untereinander, im familiären Umgang. Jeder Satz beginnt mit 'O bich...' und endet mit '...sabe, bich?' Wenn Rafael mit Emidio redet, verstehe ich immer nur 'bich'.
Dabei ist das eine kurzform von 'bicho', was auf gut sächsisch mit Viehzeug übersetzt werden kann. Einmal hatten wir auf unserer Sonntagabendwanderung einen alten Freund von Judite getroffen. Der erzählte, dass sein sohn gerade viel ins Fitnessstudio geht und jetzt wie ein 'bichao' aussieht, ein großes Tier.

Cassio leitete auch die anschließende Notfall-OP, bei der ich mich kurz vor 8 ausdem Staub machte, als die offene Wunde mit einem Blasenkatheterbeutel verschlossen wurde. "So können wir bei Komplikationen nocheinmal einfach operieren." Eine Stunde später tauschte ich mich Maria im Skype aus - in ihrem Chirurgietertial in Sydney wird in diesen Fällen auch nur eine Plastiktüte verwendet.

"Anika, kannst du dir vorstellen, die Dienste von Sanelly zu übernehmen? Wir helfen dir auch! Wir denken nur, dass sie nicht wieder kommt."
Sanelly war seit 2 Wochen kaum noch im Krankenhaus gewesen. Joao Jose hatte sich schon beschwert, weil sie an einem seiner Freitage nicht gekommen sei. Keiner weiß, was los ist, hat sie einfach nur keine Lust mehr?

Vergangenen Samstag hatte sie uns zu ihrer Geburtstagsfeier eingeladen. Da war sie quietschfidel und stellte allen Bierflaschen hin und begann gegen Mitternacht wild zu tanzen und alle zu umarmen. Dass sie gern etwas mehr trinkt, wissen die anderen schon. Die Eltern sahen sich das mit an, lachten, filmten die Szenen und wunderten sich, wo denn die psychedelischen Drogen drin gewesen sein sollten. Fernandinha und ich hatten bald genug von den Spektakel, nur wollte unser Fahrer noch nicht gehen.
"Anika, war das heute ein Trauma für dich?"
"Ich denke nicht, auch in Deutschland gibt es Menschen, die unter Alkohol merkwürdige Dinge tun. Vielleicht wird der morgige Tag ein Trauma für mich!"

Am Sonntag nach einer kurzen Nacht holte mich Vilma ab, um mit ihr aufs Land zu ihrer Mutter zu fahren. Vilma kann etwas nervig sein und ich wusste nicht, wie ich das den ganzen Tag aushalten soll. Aber heute war sie ganz relaxt. Wir gingen noch über den "Bauernmarkt", wo ihr Bruder Mais verkaufte und besuchten ihre Schwester,, um ein Huhn mit zunehmen. Das mussten sie im Hof erst einmal fangen und den Kopf abhacken. Eine gute Stunde fuhren wir durch das schöne Hügelland von Minas Gerias, mit den grünen Wiesen, der roten Erde und dem blauen Himmel. Dann bogen wir auf einen Feldweg ab und nach einer weiteren halben Stunde, standen wir vor dem Haus ihrer Mutter. Es war alles sehr einfach und sah aus wie aus dem letzten Jahrhundert. Ein Herd mit offenem Feuer und ab und zu liefen die Hühner durch die Küche. So stelle ich mir das Haus von Tante Hilde in Heinrichsort vor. Schon so eine Art Trauma...

Vilma zeigte mir stolz den Garten und die Pflanzungen von ihrem Bruder. Mais, Bohnen, Orangen. Dazwischen ein paar Zebu-Rinder, Hühner, wilde Katzen, ein Hund und ihre kleinen Nichten und Neffen.
Junin, ihr Freund, schwärmte mir vom ruhigen Landleben vor und wie schön es sei, hier einfach mal abzuschalten.
Dann verschwand Vilma für 3 Stunden in die Küche um das Huhn vorzubereiten - Frango Caipira - Huhn a lá Landei.
Zwischendrin begann ihr Onkel noch mehr Fleisch aufs Grill zu legen und alle naschten. Eigentlich hatte ich schon keinen Hunger mehr, als sie dann fertig war, aber Huhn mit Zwiebel und Knoblauch, Maispolenta und Reis kann man sich schon mal schmecken lassen. immerhin hat sich vor allem für mich so ins Zeug gelegt.

Nach dem Essen legte ich mich erstmal aufs Ohr und schlief eine halbe Stunde. Bevor wir wieder abreisten, zeigten sie mir noch die Fazenda ihres Nachbarn. Die war schon eine Klasse besser und sah für mich eher wie beschauliches Landleben aus. Sie gaben mir noch eine Tüte Orangen mit, den Mais lehnte ich aber ab, das würde zu viel.

Ich beschloss, den Tag nichts weiter zu essen.
Doch als Leandra und Junior eintrafen, wollten sie mit mir Pizza essen gehen. Ich ging mit und legten mir ständig nach. Wollen sie mich alle mästen? Ich wollte doch nur, dass sie Wasser einkauften... Junior ließ Leandra den ganzen Abend nicht los. "O Cremozinha...." "Junior, unterhalte dich mit Anika!" Ist es seine Aufgabe mich zu unterhalten?