Ist das dein Dienst? Nein, der von Cassio.

21.June 2013 - Montes Claros


Die Landung im Arbeitsalltag zum Montagmorgen war hart. 6.10 Uhr kam ich in Montes Claros an und hatte kaum geschlafen. Ich ging direkt ins Krankenhaus und kaufte mir auf dem kurzen Fußweg noch ein Brötchen. Im Aufenthaltsraum putze ich Zähne und packte meinen Kittel aus. Kaffee gab es noch keinen, hätte ich aber gebraucht.
Los geht?s.

Ich guckte mir die Liste der Patienten an, die seit Freitag nicht aktualisiert worden war. Markone, der Assistenzarzt, stieß bald dazu und wir teilten uns das auf. Dr. Cassio tauchte auf und machte alles gleich kompliziert. ?Was, du bist alleine hier von den Studenten in der Notaufnahme? Das geht nicht, du kennst unsere Kultur und unsere Verfahrensweisen nicht. Wir müssen noch jemanden finden.?, sagte er zu mir. Im Plan steht, dass Sandoval heute auch Notfalldienst hat, also rief Cassio Sandoval und alle anderen Studenten an. Wo er auftaucht, gibt es immer nur Probleme und nichts wird fertig. Sandoval erschien dann kurz nach 8 und musste für Cassio einen Bericht schreiben.

Gegen Mittag wollten wir unsere Notfallpatienten besprechen, aber Cassio wollte über Antibiotika reden. Da wurde auch Markone aggressiv, weil Cassio nach dem sokratischen Prinzip vorgeht. Neben Schlafmangel kam jetzt noch der Hunger dazu und die Uhr ging unerbittlich auf 13 Uhr zu ? das Ende des Mittagessens. 12.58 Uhr sagte Cassio: Wir sollten das Mittagessen nicht verpassen! Das war der beste Satz des ganzen Tages.

Der Weg zum Speisesaal führt über den Hof, auf den die Mittagssonne herabprasselte. Aufeinmal lag Cassios Hand auf meiner Schulter. ?Ich muss mich abstützen - ich habe eine Photophobie.? In einem Auge hat er eine künstliche Linse und wird bei starkem Licht schnell geblendet. Es hat also jeder seine Schwächen. Ich brauchte ewig beim Mittagessen und kam erst 3 Minuten später als die anderen in die Notfaufnahme zurück. Das war mir in diesem Moment egal. Ohne Essen gehe ich nirgendwohin.

Da standen schon zwei Besatzungen vom Krankenwagen und jubelten uns ihre Unfallpatienten unter. Kurz vor 3 hatten wir endliche unsere Verschreibungen fertig und konnten uns den aktuellen Patienten widmen. 9 warteten!
Cassio organsierte so eine Art Paravent, dass wir simultan behandeln konnten? Bis abends 19.15 Uhr habe ich Schnittwunden genäht, mit kurzer Unterbrechung für 1 Stunde Seminar mit Dr. Eudes. Dafür holte mich Fernandinha extra aus der Notaufnahme, weil ich es bei Nadel und Faden vergessen hatte. Im Seminar schlief ich fast ein und ging hinterher wieder zurück in die Notaufnahme. Da wartete noch ein älterer Herr mit blutendem Knöchel. Der hielt wenigstens ruhig im Gegensatz zu dem Kind, was heute wie verrückt geschrien hatte, als es nur das Wort 'Nadel' gehört hatte. Auf dem Plan standen noch 5 weitere Patienten mit Schnittwunden, aber die blieben für den Nachtdienst.

Ich war froh, meine Reistasche im Aufenthaltsraum zu wissen. Da konnte ich noch duschen und mich umziehen. Ich kaufte mir ein Eis, rannte zum Bus und fiel später ins Bett.

Zum Glück ging die Woche nicht so weiter!
Dienstag: Ein ruhiger Tag mit Dr. Magno im OP. Er erzählt immer einen Schwank und ist selbst die Ruhe in Person, nur ist das OP-Programm nicht so spannend: Hämorrhoiden ? Analfisteln ? Analfissuren ? Hamörrhoiden? Fieserweise muss ich dann mittags sagen, dass ich genug Arschlöcher gesehen habe. Carlos, der Assistenzarzt, machte mir nochmal Mut und ich solle Cassio nicht so ernst nehmen. ?Anika, du gehörst zum Team!?

Ich schlief hinterher zwei Stunden im Aufenthaltsraum, weil mein Defizit noch nicht beglichen war. Aber bis kurz nach 7 muss ich ja noch durchhalten, weil heute Abend noch das Seminar der Chirurgie-Liga ist.

Mittwoch: Ich wurde indoktriniert, nicht die Sprechstunde von Dr. Romildo zu verpassen. Kurz nach 7 war Carlos schon da. Zusammen begannen wir einen Patienten anzuschauen. Da klopfte es an der Tür. Ein Gespenst! Sanelly! Ich dachte schon, sie hätte es ganz aufgegeben. Aber sie ist zurück. Und ich kann wieder zu meinem Dienstplan zurückkehren. Viel Motivation hatte sie nicht mitgebracht, aber sie nahm die Patienten mit mir auf und verabschiedete sich zur Mittagszeit. Nach einer Siesta half ich Vilma in der Notaufnahme. Da lag ein junger Mann auf der Pritsche mit mehreren Schnittwunden und die Polizei stand daneben. Ohne Führerschein war er mit einem geliehenen Motorrad unterwegs gewesen und hatte einen Unfall gebaut. Der Fahrer des anderen Unfallmotorrads hatte ihm die Schuld gegeben und ein Messer ausgepackt? Vilma nähte die 4 Schnitte und der Kerl hielt einfach nicht ruhig. Sie herrschte ihn an. ?Ruhig halten!? ?Das Tuch nicht anfassen!? ?Es bringt gar nichts, wenn du die Polizei anlügst!? Da soll mal noch einer sagen, ich wäre direkt! Vilma entschied, nicht noch zur Notfall-OP zu gehen, weil diese mittlerweile schon fertig sein müsste. Sie wusste nur nicht, dass es noch eine zweite gab und holte sich abends bei Romildo erst mal einen Anschiss ab.

Der holte in seinem Seminar über Verbrennungen wieder ziemlich weit aus über seine Vorfahren und die ethnische Zusammensetzung von Minas Gerais. Wenn nicht pünktlich 20.30 Uhr Uhr immer seine Frau anrufen würde, säßen wir 22 Uhr immer noch da. ?Amor, estou terminando!? Er wollte nichts über die Prüfung herausrücken. Sie wird wohl solange gehen, bis das Telefon klingelt, ?Amor??

Am Donnerstag war ich zurück im alten Dienstplan: Station. Sandoval kam spät, er schaute sich einen Patienten an und meckerte an meinem Eintrag herum ? weil noch 2h fehlten, könne ich nicht ?1.postoperativer Tag? schreiben. Zu spät kommen und dann noch meckern, das kann ich ja leiden? Dr. Marcelo Eustaquio erschien und ließ sich von Nayara seine Patienten zeigen. Einen wollte er operieren und wir mussten mit? So sah ich meine erste Magenentfernung mit Rekonstruktion nach Roux-Y. Marcelo Eustaquio hat dabei fast gar nichts gesagt und gab sich unbeeindruckt von Zé Ronaldos Geschrei. Sandoval verschwand irgendwann, weil sein Vater heute operiert wurde und ich stand da mit einer Kiste mit Instrumenten, die ich noch nie gesehen hatte und deren Namen nicht mal auf deutsch wusste. ?Clampes abdominais!? Ich stand verloren vor der Kiste. ?Ähm, was ist das?? ?Bring am besten die Kiste her!? und Nayara bediente sich selbst. ?Ach, du bist wirklich deutsche??, sagte Dr. Marcelo. Er sieht aus wie die Reinkarnation von Dr. House, nur mit etwas dunklerem Teint, sonst dieselbe Figur, der selbe Gesichtsausdruck, der selbe Dreitagebart. Vor kurzem hatte er wegen einer Knieverletzung auch noch eine Krücke gehabt.
Die OP ging von 11 bis 14.30 Uhr. Nayara legte noch einen ZVK während ich fertig nähte. Man hatte Mittagessen aufgehoben und wir stürzten uns auf den kalten Reis mit Ei.

Nach Dr. Magnos Seminar über die Geschichte der Proktologie ("Irgendwoher müssen die Fälle ja kommen, die ich jeden Dienstag operiere.") spazierte ich die Avenida hinunter und gönnte mir eine große Portion kaltes Acai mit Banane und Müsli. Zum Schluss war aber meine Zunge taub und lila.

Rafael war zu Hause und ich schaute vorbei um ein Lebenszeichen dazulassen. Wir schauten uns Bilder von den Protesten an und später das Spiel Nigeria gegen Italien. Oh, ein Wiedersehen mit Ballotelli! Rafael legte mir ständig Schokolade hin, dass er die selbst nicht essen muss.

Der Freitag begann Punkt 7 Uhr mit der Visite von Dr. Sergio Barcala. Ich hatte den 6 Uhr Bus verpasst, hatte aber genug Zeit um die 40 min zum Krankenhaus zu laufen. Diesmal musste Markone leiden, weil der die Klassifikation von Leberverletzungen nicht wusste. Es ging um unseren Schussverletzungspatienten von letzter Woche. Markone hatte mit Cassio operiert und ihn gefragt, welches Segment betroffen war. Da hatte Cassio auch nur herumgeiert und ihm keine Antwort gegeben. Armer Markone!

Sanelly und ich hatten Notfalldienst, aber es gab keine Patienten. Dr. Joao José konnte den ganzen Tag schlafen (sonst zieht er immer Appendiziten magisch an) und ich durfte mittags nach Hause gehen. Das war Woche 8 von 12.