Neues aus der Anstalt

22.May 2013 - Montes Claros


Wenn man sich ernsthaft fragt, ob alle Welt verrückt spielt, sollte man die Gegenfrage stellen: Oder bin ich es, die verrückt ist?

Noch bis 17 Uhr standen wir heute am OP-Tisch, mit Joao José in der Hauptrolle, der einen Blödsinn nach dem anderen erzählte und Zé Ronaldo in der Nebenrolle, der mich schon vermisst hatte, weil er so lange kein ?Deutsch? sprechen konnte. Aber es war mir einfach zu viel. Mein Serotonin war alle und ich wollte einfach nur meine Ruhe und ein Stück Schokolade.

Dabei hatte nichts gar nicht so viel zu klagen. Gestern (Montag) hatte ich frei, am Sonntag einen beschaulichen Tag in Diamantina genossen und Freitag einen lustigen Abend mit meinen Studienkollegen gehabt.
Der heutige Tag (Dienstag) begann damit, dass ich im Gegensatz zu allen anderen pünktlich da war und eine halbe Stunde planlos herum lief, weil ich nicht wusste, ob ich die Patienten schon alle anschauen sollte/könnte. Zonk. Als meine Kollegen dann eintrudelten dauerte es, bis alles geschrieben war. Joao José erzählte allen, Sanelly und ich wären seine Töchter. Seitdem nenne ich Sanelly ?irmazinha?, Schwesterlein. Lucas, der Assistenzarzt war auch sehr gesprächig. Er kennt Leandra nicht, dafür aber Emidio. Den kennen wahrscheinlich alle und am Samstag hatte ich die große Freude und Ehre, ihm das erste Mal persönlich zu begegnen, dem Stolz der Familie. Ich habe ihn zuerst gerochen ? es lag ungewöhnlich viel Aftershave in der Luft. Dann sah ich das strahlende Gesicht seiner Mutter, bevor ich ihn in seinem schummrigen Zimmer entdeckte. Er probierte seine umgenähten T-Shirts an und mein zweiter Blick fiel auf seine Oberarme. Ja, die kamen jetzt gut zur Geltung, nur wirkten sie so unproportioniert, weil er sonst eher schmächtig und ungefähr so groß wie ich ist. Nur musste ich mir dann ein Lachen verkneifen, weil die Ärmel jetzt wie Puffärmel aussehen. Dass ich als Kind meinen Puffärmeln gekämpft habe, würde hier doch keiner verstehen.

In der Notaufnahme tummelten sich Patienten mit kleinen Schnittwunden, die mir Sanelly großzügig zum Nähen überließ. Die Kappen von den Nadeln ziehe ich jetzt immer mit dem Nadelhalter ab, um mir nicht immer in den Finger zu stechen oder aus Angst davor in Schweiß auszubrechen. Bei der kleinsten Wunde schaffte ich es, mich ordentlich mit Blut vollzuspritzen. Zweiter Zonk. Den Kittel hatte ich gestern aus der Wäscherei geholt und ein verächtliches Lächeln von meiner Gastmutter geerntet, warum ich dafür so viel Geld ausgebe. Ich könne wohl selbst nicht waschen? Mit der Hand und ohne Bügeleisen?! Das Ding muss doch hinterher ordentlich aussehen. Außerdem halte ich es für ein gutes Werk bei dem schlechten Real-Kurs (2,60 Reais = 1 Euro) etwas in die brasilianische Wirtschaft zu investieren, frei nach dem Motto ?Leben und leben lassen!?

Nach dem Mittagessen mussten wir noch ei n paar Verkehrsunfällen triagieren: Auch wenn die sich nur das Knie angeschlagen haben, kommen die bis oben hin eingepackt und mit Halskrause. Wir dürfen sie dann langsam auspacken und untersuchen. Meistens können wir sie auch gleich in die Orthopädie überweisen.

Gegen 14 Uhr gingen wir zu einer Notfall-OP. Bei einer Patientin am 6.postoperativen Tag war viel Sekretion aufgetreten und es bestand der Verdacht, dass die Naht in der Tiefe aufgegangen ist. Das bestätigte sich auch. Das Gewebe war ziemlich vernarbt und Joao José musste vielabtragen. Nach zwei Stunden fing er an (wahrscheinlich derbe) Witz zu erzählen, dass die Anästhesistin zu schimpfen begann und nicht mehr mit uns redete, während Sanelly und Lucas vor Lachen ihre Instrumente nicht mehr halten konnten.

Eine Stunde zu spät saßen Sanelly und ich im Seminar ? die Notfall-OP ging vor. Dr. Cássio dozierte wieder viel zu schnell und mir fiel so schnell kein portugiesisches Wort für Extrauteringravidität ein, als er mich fragte. Wieder ein Zonk. Im Anschluss ging es gleich mit der Chirurgenfortbildung weiter. Ich dachte: Da fehlt doch jemand! Doch Dr. Goncalvo kam nur etwas später. Luis imitierte, wie er die Brille aufsetzen würde, als dessen Handy klingelte. Zum Schluss kam Dr. Goncalvo gleich zu mir, drückte mich. ?Ach, meine Schöne, du hast mir schon gefehlt!?, danach gratulierte er Fernanda und Joao Paulo zum zweiten Jahrestag. Ich gab ihnen mit einer Geste zu verstehen, dass wir schnell gehen sollten.

In der Runde von Fernanda, Luis und Joao Paulo hatte ich das Gefühl, seit Freitagabend wieder in der Gegenwart normaler Menschen zu sein. Ich kann ihnen nur nicht so richtig erklären, warum ich alle für verrückt halte. Ich bin doch die Fremde... Wenn Leandra mittags unbedingt im Shoppingcenter Gläser kaufen will und Junior losfährt und die Autotür offenlässt? Wenn ihre Mutter einen Sternendeuterkurs besucht, sich aber dann doch nicht für die Zeit von ihrem Lieblingskind trennen kann. Wenn sich der Vater aufregt, dass seine zweite Tochter partout nicht in Montes Claros studieren wollte, obwohl sie die Beste im Auswahlverfahren war. Da scheint es schon unverständlich, dass ich 20min bis zur Wäscherei laufe und nicht jeden Tag Kontaktlinsen trage, obwohl ich doch ohne Brille viel hübscher sei. Ich sagte, ich trage die Brille aus Faulheit. Aber das beste Argument viel mir hinterher erst ein. Was auf dem Kittel landet, kann auch ins Auge gehen, doch von der Brille kann ich es leichter wieder abwischen.

Da war mein Ausflug nach Diamantina eher eine Flucht. In zwei Stunden hat man alles von der ehemaligen Diamantenhauptstadt und Weltkulturerbestätte gesehen. Die Museen waren zu, weil es Pfingstsonntag war und obendrein noch das Finale der Fussball-Landesliga. Es grenzte schon fast an Langeweile, doch ich genoss es, durch die alten Straßen zu gehen, mehr oder weniger schöne Fotos zu machen, zu lesen und zu essen, wenn ich Hunger habe. Und um einen Beitrag zur Integration zu leisten sah ich mir das Spiel auch an, Cruzeiro gegen Atletico. Der Sieg von Atletico wurde mit unüberhörbaren ?Galooo!?-Rufen begrüßt. Da hängt dann auch der Haussegen wieder gerade.