Auf der Zielgeraden

22.July 2013 - Montes Claros


Jede langfristige Behandlung sollte nicht abrupt beendet werden, sonst kann man wieder von vorne anfangen. So habe ich auch mein PJ ?ausgeschlichen?. Meine Mitstudenten sind weiterrotiert und wenn Zeit war, habe ich sie in der Inneren oder Pädiatrie besucht. Da die neue Gruppe recht groß ist, habe ich zwei Tage pro Woche frei, was dann ein angenehmes Pensum ist. Warum kann ich nicht später auch nur bis Mittag arbeiten? Da hat man doch viel mehr vom Leben.

Am Montag war ich im OP eingeteilt, aber der Operateur war noch in den Ferien. Mein fleißiger Mitstudent Joao Pedro hatte Skrupel schon wieder heimzugehen und ging zu den Kinderchirurgen. Im Plan standen drei Hysterektomien von Dr. Silvan, mit dem ich schon manchmal ein paar Brocken Deutsch gesprochen habe, weil in seinem Haus mal eine deutsche Austauschschülerin gewohnt hat. Ich fragte, ob ich bei seinen OP zuschauen könnte und er nahm mich mit. Zuerst schaute ich zu, bei der nächsten durfte ich sogar instrumentieren. Der Gyn-Student, mit Namen Lindberg (Ist das ein Name? Die Patientin hieß auch mit Vornamen Grace Kelly), war noch relativ unerfahren und überließ mir freiwillig den Instrumententisch. Pedro, der Anästhesie-Assistent, kam auf mich zu. ?Anika, hast du schon mal intubiert?? ?Nur einmal!? ?Willst du den Patienten intubieren? Zieh dir aber Handschuhe an, er ist HIV-positiv!? Gut zu wissen. Pedro half mir nur etwas mit dem Laryngoskop, dann klappte alles gut.

Dienstag hatte ich OP-Dienst mit Felipe Neri. Der war wieder sehr neugierig und ließ mir den Vortritt bei der Gallenblasenentfernung. Er schaute nur zu und jammerte hinterher über Rückenschmerzen. ?Geh nicht nach Hause, was willst du da? Wir unterhalten uns doch immer so gut!? Obwohl unsere Pflicht-OPs zu Ende waren, gingen wir nach dem Mittagessen wieder in den OP. Auf dem Plan stand eine Mandelentfernung mit Paukenröhrchen, da wollte ich mal sehen, ob das in Brasilien genau so läuft. Das Team nahm mich freundlich auf und war noch erfreuter, als sie hörten dass ich HNO machen wolle. Ich schaute übers Mikroskop zu und winkte Felipe heran, damit er auch was sieht. Die Instrumente sahen nur etwas anders aus, aber sonst funktionierte alles genauso. Mein Herz begann wieder für die HNO zu schlagen. ?Mach doch deine Facharztausbildung hier, da sparst du zwei Jahre! Oder du kommst für eine Hospitation wieder.? Felipe wollte mich noch für die Notfall-Operationen gewinnen. ?Geh nicht!? Aber ich musste nach meinen Papieren schauen und wollte zu des Marschalls Seminar gehen.

Der stellte an der Tafel viele Formeln zur parenteralen Ernährung auf. Ich kam so mäßig mit und schrieb fleißig ab. ?Du siehst so aus, als hättest du das nicht verstanden!? Die anderen rechneten viel schneller, doch zum Schluss hatte ich genauso viel richtig wie die Assistenzärzte. ?Wo ist überhaupt der Rest?? ?Noch im OP.? ?Wer operiert den um 7 noch? Gonçalo??

Mittwoch hatte ich frei und baumelte aus. Ich guckte mir die Richtlinien zur Doktorarbeitsverteidigung an und stellte fest, dass es nicht leicht ist, 100 Seiten in 12 Folien zu packen.

Donnerstag nach der Stationsarbeit rannte ich meinen Papieren und Stempeln hinterher. Dr. Cassio hatte die PJ-Bescheinigung unterschrieben und Prof. Magna, die Ersatzdekanin hat Freitag Sprechstunde und hoffentlich auch den passenden Stempel für die Äquivalenzbescheinigung.

Freitag. Mein letzter Tag. Ich rannte die Avenida hinauf, weil ich spät dran war. Zum Glück kam ich vor dem Marschall an, verschwitzt, aber pünktlich. ?Felipe, du erzählst zu viel! Zu viel, was nicht zum Thema gehört!? Felipe Doidao war wieder zurück und bekam schon wieder sein Fett weg. Der Marschall wollte schon verschwinden. ?Doutor, ich möchte mich noch verabschieden!? ?Oh Anika, ich wünsche dir alles Gute und viel Erfolg! Du bist eine sehr engagierte und strebsame Studentin und hast hier viel dazulernen können. Ich gebe dir noch meine Visitenkarte und meine private Emailadresse. Schreib mir, wenn du irgendeine Frage hast!? und drückte mich zweimal. Da war ich platt! Auf meiner Äquivalenzbestätigung steht, dass ich die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen Studenten habe. Aber ich wurde doch besser behandelt. Für das ?strebsam? schämte ich mich fast, die anderen haben viel mehr gebüffelt als ich.

?Oh Anika, ich hatte letzte Nacht Dienst. Kommst du mit mir auf Station und hilfst mir? Wir sind doch ein gutes Team!?, Felipe Neri lässt nicht locker. Ich ging mit, weil ich keine Lust hatte, schon zu gehen. Ich entließ zwei Patienten, er nur einen. ?Felipe, du schreibst hier was von einer Biopsie? Bei Hernien nimmt man keine Biopsie!? Da musste er alles von vorne ausfüllen. ?Ah, das liegt alles nur am Nachtdienst. Ich bin noch nicht ganz da!? Rodrigo, der Stationshelfer, sagte beim Kaffeetrinken, ich sei die einzige Studentin, die arbeite. Ich machte einen kleinen Spaziergang durchs Krankenhaus, denn irgendwann muss ich ja gehen! An der Rezeption zog ich das letzte Mal meine Karte durch. ?Muss die Karte zurück geben oder darf ich sie als Erinnerungsstück behalten?? ?Offiziell musst du sie zurück geben. Aber geh einfach und nimm sie mit!? Und ich ging, 10 Uhr, am Freitag den 19.07.2013. Abgesehen von Vorstellungsgesprächen und Abschlussprüfungen werde ich ein Krankenhaus demnächst nur noch als Ärztin betreten. Daran will ich noch gar nicht denken.

Ich ging die Straße hinauf, um Prof. Magnas Praxis zu suchen. Zum Glück hatte sie einen Stempel, wo richtig ?Kurskoordinatorin? draufstand und mit einem ?Good Luck!? entließ sie mich.

Der Samstag wurde der heimliche Höhepunkt der Woche. Aus dem nichts erschienen Leandra und Samira. ?Weißt du schon, was du heute Abend anziehst?? Heute Abend soll eine kleine Abschiedsrunde stattfinden und ich habe meine Mitstudenten nach Hause eingeladen. Ich habe zwar noch nichts eingekauft, aber Leandra macht sich schon Sorgen um mein Outfit. ?Dann fahren wir jetzt los und kaufen dir noch was!? Kaufen, kaufen, kaufen? Ich wollte eh' lieber mein blaues Kleid anziehen. ?Ich war gestern schon im Einkaufszentrum und habe nichts Schönes gesehen.? ?Du hast nur nicht richtig geguckt.?? Ich fand nichts, was mir gefiel. Zum Schluss gingen wir aber noch in den Supermarkt. ?Ich schäme mich eher, wenn meine Gäste nichts zu essen haben, als wenn ich nicht top gestylt bin.?

Ich legte mich kurz aufs Ohr, dann begann ich mein Gemüse für die Lasagne zu schnippeln. Samira räumte für mich auf, während sich Leandra für eine Hochzeit schick machte. ?Wir sollten noch Salgadinhos kaufen!?, sagte Samira. Sie telefonierte in der Stadt herum, wo es noch welche gebe. Als Leandra ins Auto stieg, hatte sie schon keine Lust mehr zu dieser Hochzeit zu gehen. Außerdem wusste sie auch nicht, wo die Kirche ist. An einer Kirche standen schon junge Leute Spalier und sie stellte sich dazu. Samira setzte mich an der Bäckerei ab, um die Teilchen zu kaufen. Als ich da endlich wieder raus war, war Samira nirgends zu sehen. Leandra rief mich an, dass sie auf der falschen Hochzeit sei und Samira sie holen komme, danach sei ich an der Reihe. Dann klingelte mein Handy wieder. Es war mein Mitstudent Luís Fernando. ?Anika, wir stehen vor deiner Tür!? ?Schön, nur ist keiner da um euch auf zu machen! Meine Mitfahrgelegenheit ist verschwunden.? ?Sollen wir dich abholen?? ?Wartet mal ab, Rafael kann euch rein lassen und ich warte auf Leandra.? Ach Mann, ich war kurz davor loszuheulen. Es war halb 9 und meine Mitstudenten waren überaus pünktlich ? immerhin hatte ich für um 8 eingeladen. ?Vor um 10 kommt eh? keiner.?, hatte Samira gesagt.
Um 9 kamen wir an und Rafael saß mit den Gästen schon am Tisch. Ich hüpfte noch schnell unter die Dusche und Leandra und Samira bewirteten die Gäste. Es wurde dann etwas angespannt. Auf der einen Seite saßen die Familie, auf der anderen meine Freunde. Um beide auf einmal konnte ich mich nicht kümmern. Als Emidio, Bianca und Judite eintrafen, entspannte sich alles etwas. Rafael und Maria Cecilia hatten noch etwas vor und die Kinder belagerten ihre Mutter im Schlafzimmer, bevor sie kritisch mein Essen unter die Lupe genommen hatte. Kurz vor 12 standen meine Mitstudenten auf und verabschiedeten sich schon ? am Sonntag hatten sie alle Dienst. Schade, aber wenn es am schönsten ist, soll man gehen. Kurz darauf rief Vilma an, sie sei jetzt da mit dem Eintopf. ?Vilma, gerade sind alle gegangen!? Sie war etwas sauer. ?Ok, dann essen wir den am Montag!?

Der Sonntag wurde noch einmal anstrengend. Judite putzte früh zeitig die Küche, kochte Kaffee und legte sich wieder ins Bett. Alle anderen standen später auf, tranken Kaffee und legten sich neben die Mutter ins Bett. Es wurde alles möglich beschnattert und anprobiert, während ich anfing meine Koffer zu packen. Irgendwann bekamen sie Hunger, aber Judite wollte nicht aufstehen. ?Mae, steh auf!? ?Mae, zieh dir doch etwas an!? Um 2 saßen wir zu sechst in Emidios Auto und fuhren nach einer lauten Diskussion zum Einkaufszentrum. Samira war schon schlecht vor Hunger, aber Leandra brauchte noch einen Check von Emidio, um nächste Woche neue Praxisräume zu kaufen. Nachdem Essen drehten wir noch eine Runde durchs Einkaufszentrum. Ich kann es schon nicht mehr sehen?