Povo feio

25.June 2013 - Montes Claros


Leandras Einladung nach Januária bestand noch und kurz vor 13 Uhr holte mich ein Sammeltaxi zu Hause ab. Wir saßen drinnen wie die Ölsardinen und die Frau neben mir konnte den Gurt nicht anlegen, weil sie am Bauch operiert worden war. Es ging gut 170km nach Norden und es wurde immer etwas trockener, bis wir den großen Rio Sao Francisco überquerten.

Kurz nach 3 stand ich vor dem Haus der Familie. Hinter einer Mauer wachte ein Hund über einige Hühner. Drinnen war alles sehr großzügig angelegt, aber die Mücken fühlten sich auch sehr wohl.
Ich musste natürlich gleich mein Mittagessen nachholen und es gab Reis mit Pequi und hinterher Kuchen. Ich nagte 4 Pequis ab, aber an den strengen Geschmack werde ich mich wohl nicht gewöhnen. Antenor schnitt einen Kern für mich auf ? unter der Schale sind wirklich kleine dunkle Stacheln, die man nicht in der Zunge haben will.

Wir schauten uns das Brasilienspiel gegen Italien an. Immer ging einer zu Boden. Warum lassen sich die südlichen Mentalitäten immer hinfallen? Was sind denn das für Muttis?

Wir zogen uns die Turnschuhe an und gingen Walken. Immer wieder rief es ?O Doutor Antenor!? Leandra und ihre Mutter gingen Hand in Hand. Mit 30 Jahren finde ich das fast schon ein bisschen pathologisch. Immer wenn sie etwas braucht, ruft sie ?O mae!? und bis heute rennt Judite ihren Kindern hinterher. Letzte Woche hatte ich das Thema mit Leila auch: ?Du bist eben in einer sehr traditionellen Familie gelandet, wo die Kinder nicht zur Selbstständigkeit erzogen werden.? ?Aber wie würde das Aussehen, wenn Leandra jemals Kinder haben sollte?? ?Ganz einfach, da wird ihre Mutter eine zeitlang zu ihr ziehen und ihr zeigen wie alles geht. Als ich in Kanada war, habe ich eine Kindersendung angesehen und mit der Botschaft ?do it yourself?. Da hätte ich fast vor Freude geweint. Hier ist es normal, immer jemand um etwas zu bitten. Frag deine Eltern, frag deinen Lehrer??

Zurück im Haus wollte mir Antenor seine Musiksammlung zeigen. Dafür drehte er die Lautstärke soweit auf, dass mir die Ohren abfielen. Derweil zogen sich die Frauen um, was Stunden dauerte. Wir wollten zum Junifest, versackten dann aber bei Waldemars (Leandras Freund) Familie. Dort musste ich wieder essen und seine Schwester Lucyene legte mir immer nach. Archimedes hatte mich schon darauf vorbereitet ? die Familie hat eine Keksfabrik und es gibt immer etwas zu essen.

?Was machst du, dass du so eine schöne Haut hast?? Die gleiche Frage hatte mir vergangene Woche auch schon eine Frau im Bus gestellt. ?Nichts, das ist Genetik!? ?Da müsstet ihr ja in Deutschland alle so schöne Haut haben!? O weh, da ging es aber los. ?Die Assistenzärzte in Deutschland haben alle Falten. Und es gibt so viele Leute mit Pickel. Und keiner cremt sich mit Sonnenschutz ein.? Lucyene lässt sich seit 10 Jahren regelmäßig Botox spritzen und hatte auch jetzt ein rotes Gesicht von einem aggressiven Peeling. ?Aus dir machen wir noch eine Brasilianerin! Wir glätten deine Haare, verpassen dir einen Lippenstift, ordentliche Absatzschuhe und einen Minirock? eine ordentliche Oberweite hast du ja schon!? Nein, bitte nicht! Macht bitte keine ?piriguete? aus mir. Der Vorteil von Brasilianern ist, dass ihre fixen Ideen so schnell gehen, wie sie gekommen sind.

Kika, Waldemars andere Schwester war mir da viel sympathischer. Sie hat eine 3 Monate alte Tochter, Livia, und ist nicht so aufgekratzt. ?Livia, schau dir Anika an, dass du genau so schöne Augen bekommst!? Was sagte Judite? ?Dieses Kind wird noch eine viel dunklere Haut bekommen, als es jetzt hat!? und das mit einem negativen Unterton.

Gegen 23 Uhr fuhren wir ins Zentrum. ?Anika muss noch canjica essen!? Mir war schon lange der Appetit vergangen. Und ich wusste auch nicht was das ist. Wir kamen an einem Platz mit lauter Musik, Wimpeln und vielen Leuten. ?Olha este povo feio aqui!? Schau dir die hässlichen Leute an. Das waren einfach nur normale Leute, die sich Samstagabend zu einer Art Kirmes auf dem großen Platz trafen und zu schnaken. ?Hier siehst du die größte Konzentration von hässlichem Volk!?, sagte Waldemar im Spaß. Ich fand das einfach nur noch absurd und musste lachen. Judite stieg aus um ?canjica? zu kaufen. ?Willst du nicht auch aussteigen??, fragte Waldemar. ?Nein hier ist zu viel hässliches Volk!? ?Pass auf, dass du nicht noch zum Rassisten wirst!... Kennst du einen Menschen, der mehr herummeckert als Leandra?? ?Ja,?, antwortete ich, ?ihre Mutter.? ?Da wissen wir ja, wo sie es her hat.?

Judite brachte zwei Becher mit einer Art Milchreis mit. Einen davon für mich. Mais, Kokos, Milch und gesüsste Kondensmilch. Nach 3 Löffeln war ich satt. ?Was schmeckt es dir nicht?? ?Ich kann einfach nicht mehr!? Ich wollte dann auch kein Eis mehr essen. ?Warum hast du das Kleid nicht mitgebracht?? Woher sollte ich das denn schon wieder wissen? Mir war einfach nur noch schlecht.

Als wir Sonntagmorgen beim Kaffee saßen, rief Emidio an. Es wurde lange über die Fotos diskutiert, die er bei Facebook reingestellt hatte. Judite konnte einfach nicht verstehen, wie jemand anderes mehr ?Gefallt mir Klicks? bekommen hat als ihr Sohn? Im Zusammenhang mit den Protesten gab es eine Seite auf Facebook, wo die Ärzte Bilder von ihren Sprechstundenzimmern reinstellten: eine Küche mit Herd, eine Nische in einer Kirche, ein Klassenzimmer. Es wurde zu weiteren Streiks und Protesten aufgerufen. Mit den Bustariferhöhungen in Sao Paulo hat alles begonnen und die Leute haben sich scheinbar überlegt, wofür man noch alles demonstrieren kann, Bildung, Gesundheit, Korruption, die Verschwendung von Geldern bei der Fußballweltmeisterschaft. ?Anika hat einen historischen Moment in unserem Land erwischt.?, sagte Emidio am Telefon.

Mit den Familien von Waldemars Schwestern fuhren wir auf Land, um Hühnchen zu essen. Leandra beklagte sich, dass ihr Gesicht brennt ? sie hatte ein zu starkes Peeling angewendet. Die Kinder rannten herum und Livia schrie. Nächste Woche müsse ich wiederkommen. Da könnten wir weiter die Gegend erkunden. Ich wusste noch nicht, ob ich das wollte.

Wir fuhren zurück nach Januaria und aßen Eis am Rio Sao Francisco. Mir war wieder kurz vorm Schlechtwerden als mir Waldemars Mutter noch die Reste vom Mittagessen anbot. Waldemar hielt mir das Telefon hin um meine Eltern anzurufen und der Rest ergötzte sich an meinem Deutsch. Man lag vor dem Fernseher und wartete, dass die Zeit verging.

21.30 Uhr fuhren wir endlich zurück nach Montes Claros. Ich wollte einfach nur meine Ruhe, aber wir hielten noch beim Keksfest, wo jeder eine kostenlose Packung Kekse erhielt. Die waren aber von vorgestern. Wir nahmen Raphaela mit, Waldemars Nichte, Lucyenes Tochter, ein pubertierendes Mädchen, das alle auf Trab hält. Da kommt sie ganz nach ihrer Mutter.

Es war beinahe paradiesisch am Montag in die Krankenhausroutine zurück zu kehren. Ich freute mich über Zé Ronaldos Geschrei ?O Doutora! Vamos falar alemao!?. Es etwas unglücklich war nur die Gallenblasen-OP. Lucas, der junge Asistenzarzt, hatte die Trokare zu weit in der Mitte gesetzt und drückte mir immer auch die Kamera. ?Es gibt keine Entschuldigung. Ihr müsst euch jetzt miteinander arrangieren!?, sagte Claudio Henrique. Als Lucas aber zu lange an der Gallenblase herumzupfte, ging er sich waschen und übernahm die Kamera. Die nächste OP machte er aus Zeitmangel dann auch selbst.

An meinem freien Nachmittag bummelte ich durchs Einkaufszentrum auf der Suche nach Schuhen für die Hochzeit. Ich fand aber nur Ohrringe. Zu viert gingen wir abends Pizzaessen. Leandra zog wieder ein Gesicht wie Regenwetter. Dann ließ sie sich aber von Waldemar über die Straße tragen und abküssen? Um 9 war ich wieder allein. Endlich! Und ich habe eine neue Aufgabe: mit Pfennigabsatz laufen lernen.

Heute war ich pünktlich auf Arbeit. Ich ging in den OP aber die Schwestern grinsten mich an. ?Anika, du kannst nach Hause gehen.? ?Warum?? ?Dr.Magno hat heute Urlaub.? Ich drehte mich um. ?Wirklich?? ?Ja. Wirklich!? Also ging ich wieder. 7.15 Uhr war ich schon wieder draußen, als Dr.Cassio gerade die Auffahrt hoch lief. Mit Sonnenbrille, wegen seiner Photophobie. Soll er denken, was er will. Es ist nicht mein Dienst. Nächste Woche sieht eh alles anders aus. Da habe ich das ganze Krankenhaus für mich, weil die anderen Studenten in den Ferien sind.