Gente boa

26.May 2013 - Montes Claros


Den Rest der Woche war ich im OP eingeteilt und die Zeit verging wie im Fluge.
Mittwochvormittag operierte Dr. Claudio Henrique. Er redet gern viel, erklärt uns aber auch allerhand. Als erstes war eine laparaskopische Gallenblasen-OP dran, und Tairone, der Assistenzarzt hatte Bauchschmerzen. Er dachte schon wieder an was ganz schlimmes, aber Claudio Henrique empfahl ihm zuerst 5 Tage Omeprazol, danach könne man immer noch eine Magenspiegelung machen? Ts ts.

Claudio Henrique blieb sitzen und ließ uns mit der OP beginnen. Wenn ich Tairone wäre, wüsste ich woher meine Bauchschmerzen kämen, wenn meine erste Gallenblasenentfernung ansteht. Er musste die Trokare einführen und ich die Kamera führen ? für mich ebenfalls das erste Mal. Ich wusste ja noch nicht einmal was der ?Horizont? ist (die Leber muss in der Horizontalen sein). Tairone tat mir leid, aber anders lernt man es leider nicht. Claudio Henrique nannte uns seine ?filhotes?, Welpen oder Jungtiere. Er guckte sich das eine Weile an, dann öffnete er meinen OP-Kittel, schlüpfte in meine Ärmel und sagte: ?Mach dich mal ganz locker, das ist jetzt wie ein Tanz und du musst dich führen lassen.? So führten wir zusammen die Kamera, bis wir die Gallenblase erreicht hatten, dann ging er sich auch waschen. Bevor mir die Schwester fertig erklärt hatte, wie die Fasszange zu bedienen sei, hatte ich sie schon in der Hand. Sie sagte immer wieder: Trava! Trava! Nur was heißt das Verb travar? Es heißt schließen, ich sollte die Gallenblase fassen. Auch die Kritik kommt hier etwas subtiler. ?Sind wir hier bei den Hexen von Blair??, fragte Claudio Tairone, der jetzt die Kamera in der Hand hatte. Da musste ich um die Ecke denken? Blair Witch Projekt ist ein Film der mit einer Handkamera gedreht wurde, wo es die ganze Zeit nur wackelt. So sehe das Bild jetzt aus. Der Herr Dr. Gresser aus Walenstadt hatte das einmal als ?ataktisch-scheißig? beschrieben.
?Aber du musst heute um 5 in die Versammlung kommen und uns zeigen wie man ?Mittelschmerz? ausspricht.?

Am Nachmittag assistierten mit Mitstudent Luis und ich an einer Speiseröhren-OP mit. Ein Stück der Speisröhre war erweitert, musste entfernt und neu an den Magen angeschlossen werden. Als das geschafft war, tastete Dr. Christian die Gallenblase, die voller kleiner Steinchen war. ?Die machen wir gleich noch mit raus!? Rein prophylaktisch? Ist die Patientin darüber aufgeklärt? ?Das ist nicht prophylaktisch. Die Frau hat schon eine Grunderkrankung und wenn einer der Steine abgeht, müsste man wieder operieren.? Ich flüsterte Luis ins Ohr, warum wir nicht gleich noch prophylaktisch die Appendix entfernen, wenn wir gerade dabei sind. Das erregte das Missfallen von Dr. Christian. ?Als Strafe darfst du dann die Gallensteine zählen!? Tairone schnitt die Gallenblase auf und er Inhalt erinnerte an 5 Esslöffel Kaviar. Da hätte ich lange zählen können.

In der Chirugenversammlung durfte meine Mitstudentin Vilma einen Fall vorstellen und sie grinste ohne Ende. Nachdem sie mich an den Wochenenden schon zweimal versetzt hatte, versprach sie mir, dieses Wochenende wirklich anzurufen. Zum Schluss ergriff Dr. Claudio Henrique noch einmal das Wort. In der medizinischen Terminologie gibt es einen internationalen Begriff, der sich Mittelschmerz nennt. Dabei verspüren Frauen beim Eisprung einen Schmerz, der wie eine Appendizitis vermuten lässt. Da die Aussprache des Begriffes ungewohnt sei, sollten wir die Hilfe unserer deutschen Austauschstudentin in Anspruch nehmen. Alle sahen mich an, wie ich Silbe für Silbe das Wort ?Mit-tel-schmerz? aussprach. Schön ist es, wenn man so einfach für Erheiterung sorgen kann.

Am Donnerstag wurde ich im OP von Carlos, dem Assistenzarzt gelöchert, wie die Kindererziehung und das Schulsystem in Deutschland funktioniere und wie viel ein einfacher neuer BMW koste. ?Kannst du mir nicht einen schicken?? ?Stück für Stück, wie ein Adventskalender?? Ich durfte unter seiner Aufsicht, die Haut nach der Gallenblasen-OP verschließen, wo er vorher viele Nerven mit Dr.Cassio gelassen hatte. Der Zugang war schwierig und immer hatten die zwei andere Meinung, wie man den Gallengang am besten darstellt. Die letzte OP am Nachmittag wurde abgesagt, weil die innere es nicht schaffte, den Blutzucker der Patientin einzustellen. Romildo sagte dazu nur: ?Wisst ihr eigentlich das unser Krankenhaus das mit den meisten abgesagten OPs ist?? und guckte dabei Zé Ronaldo an. ?So häufig fehlen Anästhesisten.? Oder Kompressen (ich hab nachts schon von Kompressen geträumt). Für Sanelly und mich hieß das: Halb 5 Schluss. Wann hatte ich das Krankenhaus da letzte Mal bei Tageslicht verlassen?

Zu Hause legte ich meine schweren Füße hoch. Den ganzen Tag stehen, wenig trinken und 30°C ist purer Stress für die Orthostase. Später raffte ich mich auf, noch ein bisschen am Abwasserkanal zu joggen. Im Viertel jubelte es wieder ? aber der Campeonato Mineiro ist doch vorbei?

Freitag früh konnte ich ausschlafen weil es vormittags keine OPs in der Allgemeinchirugie gibt. Heute aber waren für den Nachmittag auch keine angesetzt. Außerdem war das Seminar über Erkrankungen des Anus abgesagt worden. Ich blieb im Bett liegen, fuhr mittags aber trotzdem zum Krankenhaus. Luis kam gerade völlig fertig von der Sprechstunde von Dr. Claudio Henrique, Vilma schmiss die Notaufnahme mit Joao José und schrieb sich meine Adresse auf, um mich am Samstag abzuholen. Wir saßen eine Weile rum, bis ich mich überreden ließ, mit zur Notfall-Appendektomie zu gehen um nicht ganz umsonst hier zu sein. Vilma erklärte mir noch mal die Anordnung am chirugischen Tisch und ohne Zé Ronaldo war es sogar still im OP. Rafael, der Anästhesist packte sein Iphone aus und bat mich um eine Übersetzung er Rammstein-Texte. ?Was heißt eigentlich ?Du riechst so gut???

Als ich halb 5 ging, lief mir Fernandinha in die Arme. Sie kam abgekämpft von ihrem Innere-Dienst im Krankenhaus Santa Casa und wusste noch nicht, dass unser Seminar ausfällt. Sollte sie für eine Stunde nochmal zurückfahren? Wir setzen uns in die Bäckerei und quatschten noch eine Runde.

Zu Hause klingelte wieder da Telefon und ich hasse das Telefon! Entweder hat der andere schon aufgelegt, wenn ich ran gehe oder legt auf, wenn er meine Stimme hört, weil er denkt dass er sich verwählt hat. Nein, Maria Oliveira Costa wohnt nicht hier und wir verkaufen auch keine Motorradhemden. ? O A! A!? rief Rafael vom Hof. ?A? bin wohl ich. ?Willst du mit uns Pizza essen gehen? Du bist nicht ans Telefon gegangen. ?Ich wusste ja nicht, dass du es bist ;-)? Ich hatte zwar schon gegessen, leistete Rafael und Maria Cecilia gern Gesellschaft. Die zwei hab ich echt gern, die sind nicht so überkandidelt wie der Rest der Familie. Gente Boa ? gute Leute. Maria Cecilia muss am nächsten Tag noch Einladungen für die Hochzeit verteilen. (Die ist am 6.Juli?) ?Ist dir aufgefallen dass hier alle Maria oder José oder Joao heißen? Wärst du in Brasilien geboren, würdest du Maria Anika heißen. Ich heiße auch José Rafael und Emidio José Emidio. Rufe ihn das nächste Mal einfach José.?, sagte er mit einem Grinsen. Ich glaube, er wollte mich veralbern.

Gestern guckte ich mit Archimedes und Rafael das Champions League-Finale an. Es war einfach zu lustig, wie sich die brasilianischen Kommentatoren bemühten, die deutschen Namen auszusprechen. Sweistaiger, Laaa, Getz auf der Tribüne, Kloppe am Rand? Mit fehlte nur der Halbzeit-Kommentar von Oli Kahn á la ?Was kannst du dem FC Bayern geben??. Die Hyäne hatte es sich auf meinem Schoß gemütlich gemacht und ich war schon etwas traurig, dass es für Dortmund nicht geklappt hat. ?Dafür gewinnt ihr nächstes Jahr die Weltmeisterschaft.?, versuchten sie mich zu trösten.

Vilma rief wirklich an. ?18.30 Uhr sind wir da.? Und ich traute meinen Ohren nicht. 18.50 Uhr stand sie mit ihrem Freund vor der Tür. Sie spielten für mich Fremdenführer und zeigte mir ein paar Ecken in der Stadt. Wir fuhren zur Familie ihres Freundes, wo Vilma heute Abend Makkaroni kochen wollte. Da Haus liegt in einem edlen Wohnviertel am Rande der Stadt, was von einer Mauer und Wachen umgeben ist, wie eine amerikanische Vorortsiedlung. Etwas kubische Häuser, ohne Zaun, mit einem großen Auto davor. Keiner hatte ein Problem damit, dass ich einfach so reinschneite und wurde, im Gegenteil, sehr herzlich empfangen. Vilma kochte und alle wuselten um mich herum, Mutter Schwester, Tante, Cousin. Gente boa.

Auf dem Rückweg machten sie mich noch auf die Drogenumschlagplätze aufmerksam und meinten, dass ich wieder kommen müsse, zur Feijoada, Churrasco?