Zwei Leben

16.January 2018 - Gorubathan


Ohrwurm des Tages: Angie Kamikaze - Let me love you

Die Hähne, die einen Stock unter mir wohnen, sind der coolste Wecker, den ich jemals hatte. Sogar mit Snooze-Funktion: Morgens um fünf fangen sie an, zu krähen und werden mit zunehmender Helligkeit aktiver. Und ich, die ich noch nach japanischer Zeitzone ticke, wache erfrischt und ausgeruht auf. Und drehe mich dann noch für ein halbes Stündchen um. Einfach weil ich es kann.

Grüßt Euch, Ihr Lieben.
Vielen Dank für die lieben Mails und Nachrichten, die mich erreicht haben. Eure Worte haben mir einmal mehr vor Augen geführt, dass die Welt gar nicht so groß ist und ihr alle überhaupt nicht weit weg. Das tut gut.

Hier in Indien hat inzwischen der special winter English course mit Miss Uta angefangen. Gut, dass die Knuffels hier mit meinem Vornamen arbeiten. Uta lässt sich gut merken (danke, Mutsch und Vati!). Ich glaube, wenn ich den Leuten meinen Nachnamen abverlangte, würden sie mich irgendwann mit Mistgabeln aus der Stadt jagen.

90 Minuten lang versuche ich nun jeden Morgen, das Englisch elf junger Erwachsener aus seinem Schneckenhaus zu locken. Den Knuffels ist das Sprechen noch sehr unangenehm, gleichzeitig sind sie auch mit voller Aufmerksamkeit bei mir und bemühen sich sichtlich, mir eine Freude zu machen. Insofern bin ich optimistisch, dass ich sie zum Schnattern kriege. (Auf Englisch, wohlgemerkt. Wer Nepali spricht, muss am nächsten Tag einen Vortrag auf Englisch halten. Nach dieser Drohung war es totenstill im Kurs ^_^).

Nachmittags bin ich jetzt immer im sogenannten Daycare Centre. Das hört sich sehr viel bedeutender an, als es ist. Tatsächlich besteht das Daycare Centre aus einem Raum, in dem eine Decke auf dem Boden liegt, auf der elf Kinder unterschiedlichsten Alters ihre Hausaufgaben machen. Ihnen dabei zu helfen, ist gar nicht so leicht, weil all ihre Schulbücher auf Englisch sind, womit die kleinen heillos überfordert sind. Zeichensprache hilft, aber sehr viel mehr kann ich im Moment noch nicht für sie tun. Ich bin gerade dabei, kleine Herausforderungen der englischen Sprache in Liedern zu vertonen. Texte merken können sich die Knirpse nämlich hervorragend. Hoffentlich gelingt mit das.

Ich lebe gerade zwei Leben. Das Leben im bunten Haus oben am Berg ist sehr ruhig geworden. Mein Chef Pawan mit seiner Frau und der kleinen Charis nachhaus gefahren. Meine Gastschwester Kejiya ist die einzige, die ein bisschen Englisch spricht, weshalb ich jetzt nur noch selten an den verbalen Gesprächen im Haus teilhabe. Das ist für mich aber okay, es sind immer noch alle sehr lieb zu mir und haben immer ein Lächeln parat.

Das Leben, sobald ich die Stadt Gorubathan betrete, ist für mich ziemlich einschüchternd. Ich bin durchschnittlich einen Kopf größer als die Menschen um mich herum, alle starren mich an, einige wollen mich berühren. Das ist zumeist freundlich gemeint (einmal weiße Haut oder helle Haare anfassen), macht mich aber sehr nervös.
Es ist sehr staubig hier. Außer der Hauptstraße sind die Straßen ungeflastert. Überall liegt Müll herum. Ich vermute, in den Sommermonaten, die deutlich heißer und feuchter sind, stinkt es sehr.

Gestern hat Kejiya mich mit auf den Markt genommen, damit ich ein paar Dinge besorgen konnte. Beziehungsweise: ich sagte ihr, was ich brauche (Shampoo, Latschen, Waschpulver) und hab mich dann mit ihr durch die Menschenmengen gezwängt, bist zu verschiedenen Zelten, wo unfassbar viele Dinge übereinandergestapelt waren. Sie sprach den Händler an, der zog daraufhin aus der hintersten Ecke ein Päckchen hervor und dann fingen die beiden an, zu feilschen. Am Ende sah mich Kejiya immer fragend an. "Are 75 Rupees okay?" Für Waschpulver in Indien? Keine Ahnung. Zum Glück sind Rupien etwa so viel wert wie die japanischen Yen, deshalb hatte ich in etwa eine Vorstellung, wie viel da von mir verlangt wurde. (In diesem Fall etwa ein Euro.)

Der Markt hatte aber auch diesen magischen Flair, den Märkte nunmal so haben. Auf großen Säcken erstreckten sich bunte Gewürzdünen, die beim Vorbeigehen herrlich dufteten. Um uns tummelten sich ganz unterschiedliche Menschen, manche mit den südostasiatischen Mandelaugen, manche mit Augen, die beinahe schwarz funkelten, manche mit Piercings, manche mit farbenprächtigen Gewänder, fast alle mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Die Einwohner Indiens, wie ich sie bisher erlebt habe, sind ziemlich unbekümmert.

Aber was weiß ich schon? Ich bin erst ein paar Tage hier. Schon auf dem Rückweg vom Markt erfuhr ich, dass auch Kejiya hier zwei Leben lebt. Im bunten Haus auf dem Berg kocht und putzt sie und führt eine bescheidene, christliche (ihre Worte) Existenz. So, wie es eben von ihr erwartet wird. Unten in Gorubathan hat Kejiya einen Freund, raucht und möchte Modedesignerin werden. Sie fragt mich über viele Dinge aus, die in Indien ziemlich tabu sind: aufreizende Kleidung, Tattoos, Alkohol, Mariuhana und Homosexualität. Kejiya möchte gern in eine große Stadt ziehen, wo die Menschen nicht ganz so konservativ sind wie in der 30.000-Seelen-Stadt Gorubathan.

Seit unserem Ausflug zum Markt ist Kejiya wie ausgewechselt. Vorher war sie sehr schüchtern und sprach kaum Englisch mit mir. Jetzt begrüßt sie mich mit einem breiten Grinsen und ist sehr neugierig. Ich bin jetzt ihre Komplizin und fühle mich geehrt, dass sie ihr Geheimnis mit mir geteilt hat.

So viel erst einmal von mir, Ihr Lieben. Ich hoffe, Euch geht es gut und auch ihr habt mit Menschen zu tun, die Euch freundlich angrinsen.
Fühlt Euch gedrückt von

Eurer Utsch