Fragmente I

24.March 2018 - Kalimpong


Ihr Süßen, die letzten Wochen waren sehr kurz und sehr lang. Gestern habe ich mich dann mal hingesetzt und einige Sachen aufgeschrieben. Deswegen gibt es jetzt einen ganzen Batzen Text auf einmal.

1. Marsch
Stille liegt über dem Sportplatz der Grace Academy, einem staubigen Fußballplatz hoch über den Dächern der Stadt. Die Schüler*innen stehen nach Klassen sortiert in schnurgeraden Reihen und warten auf den Schlag der Trommel. Heute wird marschieren geübt. Vor dem Trupp stehen stolz die Präfekte, welche die Fahnenstangen tragen dürfen. Ein Schlag, alle gehen in Hab-Acht-Stellung. Ein Schrei: "By the right - forwaaaard, march!" (Rechts zuerst - vorwääärts, Marsch!)

Die Kinder beginnen, zu marschieren.Und purzeln dabei übereinander und verheddern sich in ihren Beinen oder denen der Vorauslaufenden. Marschieren ist gar nicht so einfach. Wo ist noch mal der linke Fuß? Was ist das eigentlich, ein Rhythmus? Die Lehrkräfte wuseln um die Kids herum und rufen ihnen Anweisungen zu. So wirklich erfolgreicher gelingt der Marsch dadurch allerdings nicht. Eine Staubwolke wirbelt auf, während der Trupp an einem verrosteten Fußballtor vorbeistampft.

Und ich stehe am Rand und möchte mich vor Lachen auf dem Boden kugeln. Diesen Moment will ich nie vergessen, er bereitet mir so viel Freude.

2. Kleine Bienen
"Did you eeeever hear a bee buzz, a bee buzz, a bee buzz?
Did you eeeever hear a bee buzz? Zzzzz, like this" singe ich auf die Melodie von 'Oh Du lieber Augustin' und immitiere mit großer Professionalität den Flug einer Biene. Zum sechsten Mal an diesem Tag singe ich mit den vierjährigen Dötzen aus dem unteren Kindergarten das Lied der Phone. Das Bienengesumme hilft zum Beispiel, das englische Phon /z/ zu lernen. Ich muss beim Tanzen minimalistisch vorgehen, da mir die Knirpse teilweise nur bis zum Knie reichen und sich schnell erschrecken.

Danach helfen die Hausmeisterin und ich ihnen beim Schreibenlernen. Die Hausmeisterin nennt mich "sister", spricht aber ansonsten wenig Englisch. Sie ist etwa so alt wie meine Mutter. Eigentlich wirkt sie sehr friedfertig, doch als die Klasse unruhig wird, holt sie ein gigantisches Tafellineal hervor und lässt es vor den Kleinen auf den Tisch knallen. Nach einem anfänglichen Schreck kritzeln die Kinder sofort verbissen in ihren Heften herum oder starren auf das Papier. Wer nicht schnell genug reagiert, bekommt mit der Hand einen Schlag auf den Hinterkopf.

Ich selbst habe mich auch zu Tode erschrocken und das Bild dieser riesigen Frau mit dem Stock vor den Winzlingen drückt mir den Magen zusammen wie eine Müllpresse. Sie bemerkt meinen Gesichtsausdruck und lächelt mir entschuldigend zu. Sie hebt den Arm mit dem Lineal. "With this they listen" (Damit hören sie zu). Dann geht sie zurück zu ihrem Stuhl. Ich bin immer noch versteinert. Scheiße.

3. Keine Hochzeit
Es ist eine Hochzeit. Ich kenne weder Braut noch Bräutigam, doch anscheinend reicht es aus, irgendeinen Gäste zu kennen, um ebenfalls eingeladen zu sein. So machen sich meine Gastmama Trifaina, ihre Tochter Charis und ich auf den Weg. Die Trauung ist für mich nicht so spannend, weil ich sie nicht verstehe. Und, wie gesagt, die Menschen nicht kenne, die da heiraten.

Die Fahrt zur Feststätte ist dafür umso spannender: das Auto hat fünf Sitzplätze, aber wir sind zu elft, als wir die steilen Straßen Kalimpongs hinauftuckern. Sechs teilweise recht füllige Erwachsene und fünf Kinder. Ich muss lachen, denke aber gleichzeitig bei mir, dass ich noch nicht sterben möchte. Wobei diese Art von Tod vermutlich sehr verwegen klingt: in einem überfüllten Auto in Indien den Berg heruntergestürzt.

Wir kommen unversehrt an einem schicken Touristenhotel an, an dem sich schon viele Gäste tummeln. "How many guests are going to be there?" (Wie viele Gäste kommen denn?) frage ich Trifaina. "1500 are invited, but you never know how many will come." (1500 Gäste sind geladen, aber man kann nie wissen, wie viele kommen.) Ich mache große Augen. 1500 Gäste? Ich glaube, ich kenne nicht mal 1500 Menschen, die ich dann zu meiner Hochzeit einladen könnte.

"You have to invite everyone, otherwise they feel offended" (Du musst alle einladen, sonst sind die Menschen beleidigt) sagt ein indischer Missionar aus dem Süden, der mich in der Essensschlange angequatscht hat. Ich erzähle ihm, dass bei der Hochzeit meines Bruders 30 Menschen eingeladen waren. Er schaut mich ungläubig an. "That's not a wedding." (Das ist keine Hochzeit.)

Am Ende des Tages sind 2300 Menschen auf dem Fest gewesen. Ich habe großen Respekt vor den Menschen, die das organisiert und beaufsichtig haben. Ich glaube, ich wäre angesichts dieser Aufgabe einfach gestorben. Auch das wäre ein verwegener Tod. In Indien an Hochzeitsplanung gestorben. Allerdings würde mir das wohl niemand abnehmen.