Fragmente II

24.March 2018 - Kalimpong


Ups. Es gibt anscheinend ein Zeichenlimit.

4. Der Weg Gottes
Wir haben viele Besucher an der Grace Academy. Eine Delegation aus den Niederlanden kommt und schaut sich das Gebäude an, das sie der Schule gestiftet haben. Meine Kollegin Ambika zupft mich ungläubig am Ärmel. "They are taller than you!" (Die sind ja größer als Du.) Sie ist völlig von den Socken.

Eine Woche später besuchen uns drei pensionierte Lehrkräfte aus dem UK und Australien, die uns eine Woche lang nachmittags einen Workshop zu alternativen Unterrichtsmethoden und class room management geben. So sitzen zwanzig erwachsene Menschen nachmittags in einer Schule und lernen, wie man durch das Spielen von "Stein, Schere, Papier" Addition und Multiplikation vermitteln kann und haben Spaß dabei.

Ich finde es richtig schön, wie der Glauben all diese Menschen verbindet. Es wird gemeinsam gebetet und gesungen, es werden Geschenke ausgetauscht und Einladungen ausgesprochen.

Für mich heißt es allerdings, dass die Menschen das Bedürfnis haben, mir den Weg Gottes zu zeigen. Die pensionierte Lehrerin Mary steckt mir eine Broschüre zu, die mir "death and certain judgement" (Tod und die sichere Verurteilung) prophezeit, wenn ich mich nicht Jesus zuwende. Trifaina erzählt mir von all den Wundern, die Gott in ihr Leben gebracht hat. Immer wieder wird mir ans Herz gelegt, die Bibel zu lesen.

Das ist für mich ein bisschen anstrengend. Ich finde es wie gesagt toll, was die Menschen alles auf die Beine stellen, aber dass mein Weg durch das Leben als der falsche befunden wird, ist schade. Schließlich ist er dem einiger anderer hier sehr ähnlich.

Na, ich nehme auf alle Fälle ein paar schöne Lieder mit nachhaus. Und im Flyer der Verdammnis finde ich ein paar tolle Zitate für meinen nächsten Metal-Song.

5. Güte, Liebe, Freude, Frieden
An der Grace Academy werden die Kinder in vier Häuser einsortiert, ähnlich wie in Hogwarts. (Das ist eine Zaubererschule aus einer DER Buchreihen meiner Generation, Harry Potter.) So sind die Kids zwar nach Alter in Klassen sortiert, gehören aber klassenübergreifend einem der Häuser an: Kidness, Love, Peace and Joy (Güte, Liebe, Frieden und Freude). Bei Sportmatches ist das immer sehr lustig, da spielen dann zum Beispiel Güte und Liebe gegen Frieden und Freude.

Es ist der Donnerstag, an dem die Neuzugänge den Häusern zugeordnet werden. Leider nicht durch einen Hut wie bei Harry Potter, sondern anhand ihres Nachnamens. Alle Lehrkräfte sollen bei der Zeremonie anwesend sein, deshalb werde ich damit beauftragt, auf die Kindergartenkinder und die erste Klasse aufzupassen. "Gib ihnen eine Aufgabe, die langweilen sich sonst zu Tode" bitte ich eine der Lehrerinnen. Doch sie ist schon spät dran und lässt mich etwa vierzig Kindern zurück.

Ich ahne schlimmes. Die Kleinen sprechen kau Englisch und mein Nepali beschränkt sich auf "Das ist lecker", "Gute Nacht" und natürlich "Ambooo" (Abgefahren). Das hilft mir jetzt nur so bedingt etwas. Na gut, denke ich, 45 Minuten muss ich da jetzt durch.

Die Vorlauten unter den Kids brauchen 10 Minuten, um herauszufinden, dass ich nicht schlage und dann bricht die Apocalypse aus. Sie schreien, rasen im Raum herum, springen auf den Bänken, kritzeln an der Tafel, schmeißen mit Kreide und versuchen, sich zu prügeln. Bei den Prügeleien greife ich ein, alles andere muss ich mit zunehmender Hilflosigkeit hinnehmen. Jegliche Versuche, für Ruhe zu sorgen gebe ich irgendwann auf, weil mir einige der Kinder ins Gesicht lachen.

Besonders bizarr ist, dass sie aber trotzdem noch um Erlaubnis fragen, ob sie Wasser trinken oder auf Toilette gehen dürfen. Das wird ihnen von Anfang an eingeschärft. Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Aus 45 Minuten werden 70, doch ich habe jegliches Zeitempfinden verloren, als die Lehrkräfte wiederkehren.

Unberührt vom Pausenlärm sitze ich kurze Zeit später im Personalraum und kritzele mir selbst Ermutigungen in mein Tagebuch. Nicht aufgeben. Nicht persönlich nehmen. Immer daran denken: Das sind Kinder. Eine der Lehrerinnen sagt später "Uta nearly cried, no?" (Uta hat fast geweint, oder?). Das stimmt nicht. In der Schule bin ich gefasst. Und, wenn man mich lässt, enthusiastisch. Aber später, in meinem Zimmer, in eine Kuscheldecke gewickelt, den Bergwind vom Balkon im Haar, da fließt das Blut zurück in meine angespannten Schultern und die erste Träne über meine Wange. Huff. Ich habe mich noch nie in meinem Leben so hilflos gefühlt.

6. 52 Jahre das gleiche Gesicht
"Miss, I can carry the chairs" (Miss, ich kann die Stühle tragen) sagt Arpeet, ein Schüler der 7. Klasse. Wir sind gerade dabei, Plastikstühle in die Aula zu tragen, welche im dritten Stock der Schule liegt. Mit "wir" meine ich alle Jungen ab Klasse 6 und mich. Den Jungs bereitet es sichtlich Unbehagen, dass eine Frau etwas trägt, obwohl ich sie alle um mindestens einen Kopf überrage.
"It's okay" sage ich, "I am at least twice as heavy as you are." (Ist schon in Ordnung, ich bin mindestens zweimal so schwer wie Du.)

Ich bin ganz froh, dass ich Stühle tragen darf, die Alternative wären nämlich Dekorationsarbeiten in der Aula gewesen. Und Deko zähle ich nicht zu meinen Kernkompetenzen.
Wir bereiten alles für das 52ste Hochzeitsjubiläums unseres Schulpräsidenten und dessen Frau vor, wobei es sich um die Eltern meiner Gastmutter Trifaina handelt. Trifaina steht ruhig in der Aula, gibt allen Arbeitslosen etwas zu tun und bringt Plastikblumen an goldenem Stoff an. Innerhalb einer Stunde ist alles geschmückt und die Stühle stehen.

"Tomorrow, we'll meet at nine thirty. Just think 9 o'clock, then you'll be here in time." (Morgen treffen wir uns halb zehn. Merkt euch einfach um 9, dann sind alle pünktlich). Ich grinse in mich hinein. Die Wahrscheinlichkeit, dass alle pünktlich anwesend sind, ist eher gering. Selbiges gilt allerdings auch für die 200 geladenen Gäste, insofern ist alles entspannt.

Am nächsten Tag bin ich um 9 Uhr 25 in der Schule, eine Viertelstunde später treffen dann auch die anderen ein. Alle Lehrerinnen (außer mir) tragen Saris - farbenfrohe Gewänder, die bis zu fünf Meter lang sind. Allein kann man so etwas eigentlich unmöglich anziehen. Deswegen verwandelt sich das Zimmer der Lehrkräfte in einen Umkleideraum und es beginnt das große Wickeln. Ich muss mich sehr anstrengen, um eine ernste Miene zu behalten, bewache aber pflichtbewusst die Tür.

Schließlich sind alle fertig und wir klettern hinauf in die Aula. Dort empfangen wir die ersten Gäste. Auch Trifainas Eltern sind bald angekommen. Die Zeremonie ist für mich leider nicht so spannend, dort wird zu 95auf Nepali gesprochen. So sitze ich drei Stunden lang da, schaue mir die Menschen an und erfinde Geschichten und Melodien.

Dann horche ich auf. Der letzte Redner spricht teilweise auf Englisch.
Er sagt übersetzt "Stellt euch mal vor, die beiden haben jetzt 52 Jahre lang das gleiche Gesicht gesehen."
Trifainas Papa ruft "Ach, wir schauen uns einfach nicht mehr an."
Ich muss herzlich lachen und finde es schön, dass in diesem Land das mir so fremd ist die gleichen Ehewitze gerissen werden.

@Momo: Danke Dir, großer Bruder, für Deine Worte. Das mit der Grenzsetzung ist wirklich frustrierend. Zumal die anderen Lehrkräfte nicht so ganz verstehen können, was mein Problem ist. Sie waren sehr überrascht als ich sagte, dass meine Eltern mich nicht geschlagen hätten.
Mit den Großen habe ich Spaß, aber die Kleinen machen mir zu schaffen.

Auf das Angebot mit der Unterstützung im Ethikunterricht würde ich gern in Deutschland zurückkommen. Hier ist das auf Englisch leider schwierig. Deshalb singe ich mit ihnen Popsongs und spreche dann über die Texte.

Fühl Dich dick aus Indien umarmt!